Meerlektüre
„Allein zwischen
Himmel und Meer“
Boris Herrmann berichtet über seine 80 Tage beim härtesten Segelrennen der Welt, der Vendée Globe Challenge
Blicken wir auf das Segeljahr 2021 zurück, dann gibt es ein Highlight und einen neuen deutschen Segel-Superstar, der alles andere überstrahlt: Offshore-Profi Boris Herrmann hat als erster Deutscher an der härtesten Regatta für Solosegler teilgenommen und die Vendée Globe mit der „Seaexplorer“ mit Bravour gemeistert. Nicht nur Seglerinnen und Segler fieberten die 80 Tage währende Reise um die Welt mit, checkten mehrmals täglich den Tracker und sogen die regelmäßigen Nachrichten und Videos, die Boris von Bord schickte, förmlich auf.
Als es zum spannenden Endspurt kam, ließ sich Segler, Segelmacher und Sänger Frank Schönfeldt sogar zu einem eigenen Song für Boris inspirieren, dessen Text uns allen aus der Seele spricht:
Mit seiner Teilnahme an der Vendée Globe und seinen ehrliche Berichterstattung von Bord hat es Boris verstanden, nicht nur Seglerinnen und Segler zu begeistern. Jede große Nachrichtensendung berichtete über den foilenden Hasardeur auf den Weltmeeren, sein Zieleinlauf wurde live übertragen, am Tag darauf war Boris auf dem Titel vieler deutscher Tageszeitungen.
Zusammen mit dem renommierten Journalisten und Autor Andreas Wolfers ist nun ein Buch über Boris‘ erste Vendée Globe Teilnahme entstanden. Andreas Wolfers, der während des gesamten Rennens in jeder Malizia-Chatgruppe war und oft persönlich mit Boris sprach, ist es gelungen, ein spannendes, fesselndes Buch zu schreiben, das auch für alle, die meinen, schon alles über das Rennen zu wissen, neue Facetten bietet.
SEGEL JOURNAL digital stellt für seine Leserinnen und Leser Auszüge aus dem siebten Kapitel vor, das die dramatische Suche nach dem havarierten Kevin Escoffier beschreibt. Ein Passage aus dem Buch, bei der einem beim Lesen kalt wird. Und die Spannung ins scheinbar Unermessliche steigt. Obwohl das Ende bereits bekannt ist.
Leseprobe
Boris Herrmann mit Andreas Wolfers
„Allein zwischen Himmel und Meer“
„Meine 80 Tage beim härtesten Segelrennen der Welt”
Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
mit farbigen Abbildungen
ISBN: 978-3-570-10454-5
C. Bertelsmann Verlag
Gebundene Ausgabe 24,00 Euro
Die Nacht, in der fieberhaft nach Kevin Escoffier gesucht wurde, wird in dem Buch „Allein zwischen Himmel und Meer“ detailliert und hochspannend aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Der Leser wähnt sich an allen Schauplätzen, wechselnd im Minutentakt: an Bord der „Seaexplorer“, mit dem Havaristen in der kleinen, heftig hin- und herschaukelnden Rettungsinsel, beim Team „Malizia“ in Hamburg, in den Rettungszentralen weltweit.
Wir präsentieren Ihnen das Protokoll der dramatischen nächtlichen Rettungsaktion auf multimediale Weise: den Beginn des Kapitels „Die längste Nacht“ als Textauszug (Seite 147-150), die darauf folgenden Seiten als Audiodatei, gelesen von Buchautor Andreas Wolfers exklusiv für das SEGEL JOURNAL.
Die längste Nacht
An dem Tag, an dem sein Schiff auseinanderbrechen wird, legt Kevin Escoffier eine beeindruckende Aufholjagd hin. Wir sind seit 23 Tagen unterwegs und seit zwei Tagen im Südpolarmeer. Wir hatten gehofft, dort auf unseren ersten Polarzug aufspringen zu können, auf ein großes Sturmtief, das quer über den Südatlantik Richtung Kapstadt zog.
Doch es war zu schnell für uns. Nur Spitzenreiter Charlie Dalin schafft es, das Tief zu reiten: Er hält sich eisern vor der Kaltfront, lässt sich mit Rückenwind von ihr nach Osten jagen und hat bereits einen Vorsprung von mehr als 200 Seemeilen. Die Verfolgergruppe, zu der auch ich gehöre, ist von der Kaltfront überholt worden. Im Rücken der Front sind wir in die typische Kreuzsee geraten: eine Buckelpiste aus kurzen, steilen, wirr durcheinanderlaufenden Wellen, aufgewühlt von stürmischen Böen, die nun aus einer anderen Richtung übers Wasser fegen als kurz zuvor noch in der Tiefdruckzone. Die französischen Segler nennen es »mer hachée«, gehacktes Meer. Ich hasse es.
Unsere Foils nutzen uns hier gar nichts. Im Gegenteil: Wenn plötzlich eine Böe mit dreißig Knoten vom Himmel fällt, wenn das Schiff dann wie entfesselt auf den Foils über vier Meter hohe Wellen springt, nur um brutal von der nächsten Wasserwand gestoppt zu werden, dann spüre ich, dass die Seaexplorer sich selbst zerstören würde, ließe ich sie gewähren. Also zügele ich mein Schiff. Ich nehme Druck aus den Segeln, bis das Springen und Krachen mir einigermaßen erträglich erscheint.
Auf dem Tracker sehe ich, dass der Franzose Kevin Escoffier in den letzten 24 Stunden mit durchschnittlich 18,4 Knoten durch die Kreuzsee gebrettert ist. Was für ein Speed! Und das nicht bloß während einer Sturmböe, sondern als 24-Stunden-Schnitt! Das ist das höchste Etmal der gesamten Flotte, niemand segelt gerade schneller als Kevin. Seine Strategie für das Südpolarmeer heißt offensichtlich: All in! Nachdem er Jean Le Cam überholt hat, liegt er nun auf Platz drei, nur noch zwanzig Seemeilen hinter Thomas Ruyant. Der hält sich trotz seines abgesägten linken Foils bisher erstaunlich gut auf dem zweiten Platz – doch ich gehe davon aus, dass Kevin ihn noch heute überholen wird. Und dann wird er zur Jagd auf den Spitzenreiter ansetzen.
Ich kenne den vierzigjährigen Kevin Escoffier gut, wir haben oft gemeinsam im »Pôle Finistère« trainiert, dem französischen Leistungszentrum der Vendée-Segler. Kevin ist Profisegler, die Weltmeere sind sein Stadion, von Kindheit an. Sein Vater hat mehrere Atlantikregatten gewonnen, sein Bruder arbeitet als Muschelfischer vor Saint-Malo. 2012 gewannen Kevin und seine Crew auf einem Trimaran die Jules-Verne-Trophäe: den legendären Preis für die schnellste Nonstop-Weltumsegelung. Sie benötigten 45 Tage und 13 Stunden. 2018 gehörte er zur Besatzung des Siegerboots beim Volvo Ocean Race, einer Regatta um die Welt in mehreren Etappen.
Kevin hat Maschinenbau studiert und gilt als begnadeter Techniker, ein MacGyver unserer Szene, der alle denkbaren Schäden auf hoher See irgendwie in den Griff bekommt. Als etwa beim Volvo Ocean Race auf seinem Boot die Meerwasserentsalzungsanlage ausfiel und die Mannschaft sich darauf einstellte, aufgeben zu müssen, da improvisierte und fummelte Kevin so lange an der Anlage herum, bis sie wieder Trinkwasser produzierte. Er rettete so seinem Schiff den Sieg. Und als jetzt, drei Tage nach dem Start der Vendée Globe, plötzlich kniehoch Wasser in seinem Schiff stand, da filmte er kurz die Überschwemmung, witzelte über sein »neues Aquarium« und kroch dann auf Knien durchs Wasser, um systematisch nach dem Leck zu suchen. Er entdeckte schließlich ein schadhaftes Ventil, tauschte es aus, pumpte sein Schiff trocken – und weiter ging’s.
Genau wie ich startet Kevin in diesem Jahr zum ersten Mal bei der Vendée Globe. Er ist der neue Skipper der PRB, ein zehn Jahre altes Schiff, das bei den letzten beiden Vendées aufgeben musste, jedes Mal nach einer Kollision mit Treibgut. Das leichte, sehr schnelle Schiff wurde vor drei Jahren mit Foils aufgerüstet. Seither ist es ein Fluggerät, das schnellste der älteren Generation. Beim Atlantikrennen Transat Jacques Vabre 2019 surfte das Schiff an vielen hypermodernen Neubauten vorbei auf den zweiten Platz. Kevin fürchtete allerdings, dass die PRB nicht stabil genug gebaut war, um mit den neuen Foils als Beschleuniger dem brachialen Seegang im Südpolarmeer standzuhalten. Als wir uns Mitte 2020 in der Bretagne trafen, schilderte er mir, wie er gerade mit 200 Kilogramm Karbonwerkstoffen das vordere Deck verstärkt hatte. Er wollte es dem Polarmeer auf keinen Fall erlauben, sein Schiff zu zermürben.
Kevin, der sich während seines Ingenieurstudiums auf Werkstoffe und Strukturen beim Bootsbau spezialisiert hatte, wusste genau, was er tat. Kaum jemand hätte das Schiff besser für die Torturen präparieren können als er. Ich vermute, er kann sich in jede Karbonfaser seines Boots hineinfühlen – auch jetzt, bei dem Höllenritt durch die Kreuzsee. Ich bin sicher, er wird genau spüren, wie viel er seinem Schiff bei der beeindruckenden Aufholjagd zumuten kann.
Um 14.46 Uhr deutscher Zeit empfängt der PRB-Teammanager eine Textnachricht von Kevin Escoffier: »SOS! Je descends! Ce n’est pas une blague!« Auf Deutsch: »SOS! Ich gehe unter! Dies ist kein Witz!« Die nächsten zwölf Stunden werde ich wohl nie vergessen, auch wenn ich es gern täte. Erst im Rückblick ist mir klar geworden, wie alles ineinandergegriffen hat, das Planbare und das Schicksalhafte.
Bei keiner Vendée Globe je zuvor sind so viele Sicherheitsnetze aufgespannt worden; alles hat perfekt funktioniert, die Notfallpläne, die Ortungssysteme, die Kommunikation. Doch das Meer bleibt immer stärker. Und wer ihm einen Schiffbrüchigen entreißen will, dem wird es mit moderner Technik allein nicht gelingen. Er muss erfahrene Seeleute an seiner Seite haben – und oft auch unfassbar viel Glück.
Ebenfalls erst danach habe ich erfahren, welche Versuche weltweit unternommen wurden, die Suche vor Ort zu unterstützen. Gemeinsam mit drei anderen Seglern durchkämmte ich bis tief in die Nacht das Meer nach Kevin. Es gab nur uns, unsere Schiffe und die dunkle, leere See. Meine Verzweiflung wuchs, und ich fühlte mich trotz des ständigen Kontakts zur Rennleitung allein und schier erdrückt von der Verantwortung. Ich wusste nichts von der fiebrigen Kommunikation zwischen den Akteuren des internationalen Rettungseinsatzes. Sie saßen in Les Sables-d’Olonne, Kapstadt, Paris, Hamburg, Abu Dhabi und Norfolk/USA in ihren Kommandozentralen. Sie blickten auf ihre Monitore und beobachteten, wie sich dort vier Punkte hin und her bewegten. Vier Schiffe in einem Seegebiet gut 1100 Kilometer südlich von Südafrika, auf der Suche nach einem fünften Schiff.
Ich wusste nichts von den Optionen, die international diskutiert wurden. Die auf dem Festland wiederum hatten keine Ahnung, wie wir uns hier draußen fühlten. Erst die im Nachhinein zusammengetragenen Untersuchungsberichte, Protokolle, Interviews und Chat-Verläufe ermöglichen es, die Ereignisse dieser Nacht lückenlos zu erzählen, aus unterschiedlichen Perspektiven.
Die Nacht, in der fieberhaft nach Kevin Escoffier gesucht wurde, wird in dem Buch „Allein zwischen Himmel und Meer“ detailliert und hochspannend aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Der Leser wähnt sich an Bord der „Seaexplorer“, zusammen mit dem Havaristen in der kleinen, heftig hin- und herschaukelnden Rettungsinsel, beim Team „Malizia“ und in den Rettungszentralen weltweit. Einen Auszug aus dem Protokoll der dramatischen nächtlichen Rettungsaktion liest exklusiv für SEGEL JOURNAL digital Leser Autor Andreas Wolfers
Zum Schluss ein kurzer Gruß von Andreas Wolfers an unsere Leserinnen und Leser.